Am Anfang war es ein Gefühl. Unser komplettes Leben, nach dem Schema ‚das-tut-man-eben-so’, fühlte sich nicht mehr erfüllend oder Sinn stiftend an. Wir stellten plötzlich alles in Frage. Denn ein selbstbestimmtes Leben, fühlt sich so sicher nicht an. Am Schlimmsten war die Erkenntnis, als arbeitende Eltern und Hausbesitzer die To-Do-Listen nie fertig abarbeiten zu können und der Zeit immer hinterher zu jagen. Wir steckten ganz tief im berüchtigten ‚Hamsterrad’ fest.
Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben wurde größer
Ich überdachte mein Lehrer-Dasein und das Schulsystem an sich. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich an einer Weiterführenden oder an der Grundschule unterrichten wollte.
Wollte ich verbeamtet sein und wirklich ein drittes (!) Staatsexamen haben? In unzähligen Gesprächen mit meinem Mann fiel irgendwann der Satz: „Wenn du keine Stelle mehr hast, steigen wir eben aus und reisen.“ Dieser Satz klang ganz sicher nach einem selbstbestimmten Leben. Es sollte nicht nur bei dem gesprochenen Wort bleiben.
Aber, natürlich war es dann erst mal nicht so. Ich war mit meiner unbefristeten Stelle an der Grundschule eigentlich ganz zufrieden, hatte tolle Kollegen und noch tollere Kinder. Ob ich dann noch mal an eine weiterführende Schule kommen würde, war nicht ausgeschlossen. Und doch wirkte dieser kleine Satz meines Mannes wie im Film ‚Inception‘.
Er ließ uns nicht mehr los und der Gedanke an ein freies ‚unabhängiges‘, selbstbestimmtes Leben wuchs. Ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, bahnte sich wie ein Weg in unser Bewusstsein.
Wir kamen ins Handeln
Zu dieser Zeit lasen wir ‚Eine kurze Geschichte der Menschheit‘ (Yuval Harari) und ‚Vom Aussteigen und Ankommen‘ (Jan Grossarth). Zu meinem persönlichen, beruflichen Thema kamen viele unglaublich wichtige Nebenthemen hinzu. Wir stellten gefühlt zunächst nur im Kleinen unser Leben um. Wir aßen vegan, bedachten unser Konsumverhalten, misteten aus und beschäftigten uns mit minimalistischer Lebensweise. All diese kleinen Veränderungen machten uns bewusst, dass wir uns ein selbstbestimmtes Leben für uns und unsere Kinder wünschen.
Wir kauften ein Wohnmobil und fingen an rumzuspinnen, eine Auszeit zu nehmen – aber wann? Wann würde es für uns beruflich und privat passen und können wir unseren Großen überhaupt aus der Schule nehmen?
Unser Sohn öffnete uns die Augen
Das Gefühl, eher bald als später zu handeln wuchs. Und dann ging es plötzlich recht schnell. Unser damals 7-Jähriger wollte eines Morgens nicht zur Schule gehen. Er beschimpfte sie regelrecht und machte laut und deutlich klar, dass er dort nicht mehr hingehe. Mit so einem Verhalten hätten wir niemals gerechnet und es entstand eine komplett neue Situation für uns. Er war immer Regelreiter im Kindergarten, konnte Lesen und Schreiben, bevor er in die Schule kam, es war klar, dass er in der Schule macht, was von ihm verlangt wird. Wir haben uns nie Sorgen gemacht, weil er sich darauf gefreut hatte. Und dann diese Aussage.
Arne fuhr an diesem Tag mit ihm in den Wald und wir redeten so bald wie möglich mit der Lehrerin. Wir entschieden uns während des Gesprächs, nach dem Schuljahr los zufahren und einfach alles ganz neu auszuprobieren. Mir ist klar geworden, dass unserem Sohn in der Schule jede eigene Motivation zu lernen sukzessive abtrainiert und geradezu völlig genommen wurde. Gleichzeitig merkte ich, dass in unserem Schulsystem wirklich selten am Kind orientiert gearbeitet werden kann. Es fehlt schlicht die Zeit, die Mittel und teilweise auch der Wille, um mit den Kindern individuell zu arbeiten. Ich kenne viele Kollegen, dessen Ziel nichts anderes ist, es vom System her jedoch einfach nicht besser geht. Für mich selbst war dies ein sehr frustrierendes Gefühl.
Meine Erfahrungen als Lehrerin
Ich selbst habe viele unterschiedliche Niveaus an Schulen kennengelernt. Von Elite (erzbischöfliches Gymnasium mit 97 % Akademiker-Eltern) über konservativ (Grundschule an der ich selbst als Kind war und die 30 Jahre später denselben Unterricht und ähnliche Methoden anbietet, ich war dort ein halbes Jahr als Lehrkraft tätig) und Dorfschule (4 Klassen, 4 Lehrer) bis innovativ (Schulleiter, die ihre eigene Schule vom Bau an planen dürfen) und unglaublich engagiert (meine letzte Schule mit 93 % an SchülerInnen mit Migrationshintergrund).
An Letzterer habe ich jeden Tag erlebt, wie sehr das Schulsystem an Familien, Leben, Individuen vorbei schult und handelt. Wie wenig wir als einzelne Lehrer, die letztlich für unsere Kinder da sein wollen am System ändern können/dürfen ist erschreckend. Inspirierende Lektüren waren dazu ‚Schulinfarkt‘ (Jesper Juul) und ‚Anna und die Schule‘ (Richard David Precht). Als Lehrerin fühlte ich mich schon immer mehr den Schüler*innen als dem Kultusministrium verpflichtet. Als Mutter eines schulpflichtigen Kindes ist es mir umso wichtiger, dass die Schule Kindern nicht die Motivation und sämtliche Lust am Lernen nimmt.
Auf der Suche nach dem optimalen Lernmodell
Ich war und bin auch immer noch auf der Suche nach Alternativen. Freilernen interessiert und inspiriert mich genauso wie freie demokratische Schulen oder Alternativschulen. Unterwegs auf unserer Reise stolperte ich plötzlich über den Begriff ‚worldschooling‘ und definiere für mich den Begriff des Homeschooling neu. Mein Sohn zeigt mir jeden Tag, wie wenig er jemanden braucht, der ihm sagt, für was er sich interessieren soll. Unsere Kinder führen intuitiv ein selbstbestimmtes Leben. Von den ersten Bewegungen als Baby wie das Greifen nach einem Gegenstand über die ersten Schritte bis hin zum selbstständigen Anziehen können alle Eltern bei ihren Kindern einen ungeheuer starken Willen feststellen. Wie oft steht ein Kind auf und fällt wieder hin, bis es laufen kann? Dieselbe tiefe intrinsische Motivation (also Motivation aus sich selbst motiviert, nicht von außen) findet ganz natürlich auch beim Lernen statt.
Wenn Kinder
- interessengeleitet,
- nach eigenen Bedürfnissen,
- in vertrauter Umgebung,
- in eigenem Tempo,
- auf angepasstem Niveau ohne Über- oder Unterforderung und
- selbstbestimmt
lernen dürfen.
Auf unseren Reisen und in Kontakt zu unterschiedlichen Lernmodellen habe ich festgestellt, dass mir eine Grund-Bildung – trotzdem – wichtig erscheint. Für den Grundschulbereich bzw. das Grundschulalter bedeutet das aus meiner Sicht zunächst eine Fokussierung auf die wesentlichen Kompetenzen Schreiben, Lesen und Mengenverstehen. Diese Basiseigenschaften zu erwerben eröffnen Kindern neue Welten, in denen sie wiederum völlig eigenständig auf Entdeckungsreise gehen und ein selbstbestimmtes Leben führen können. Es ermächtigt sie, über Themen, die sie interessieren selbst zu entscheiden und sie ohne auf die (Vorlese-) Hilfe von Erwachsenen angewiesen zu sein, sich selbst zu erschließen und zu vertiefen.
Mein Sohn hat mit vier Jahren angefangen nach der Bedeutung einzelner Buchstaben zu fragen. Schon mit fünf hat er sein erworbenes Wissen angewendet und angefangen zu schreiben. Mit sechs Jahren hat er alles gelesen, was ihm unter die Finger kam. Ich hätte es unterbinden können, aber wozu? Damit er im Gleichschritt mit den Erstklässlern mitzieht? Jetzt mit acht Jahren liest er innerhalb einer Woche ein Buch wie die Unendliche Geschichte von Michael Ende. 50-100 Seiten am Tag sind für ihn zeitweise normal, wenn er ein neues Thema für sich entdeckt und zum Beispiel einen Roboter bauen möchte. Grundlagenwissen kann er sich inzwischen weitestgehend selbst anlesen. Natürlich suchen wir gemeinsam nach passender Literatur (die Onleihe bietet wunderbare Möglichkeiten für unterwegs).
Viele Eltern trauen es sich gar nicht zu, Lernbegleiter*in für ihre Kinder zu sein. Sie verzweifeln daran, dass ihre Kinder sich in manchen schulischen Bereichen schwerer tun.
Grundsätzlich geht es mir darum, Eltern Wege aufzuzeigen, ihren Kindern zu helfen, Dinge selbstständig anzugehen. Probleme selbst zu lösen und letztlich zu dem werden zu lassen, was sie sowieso schon sind. Um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, wird am nötigsten Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes und Beziehung gebraucht.
Wenn du Fragen oder Anregungen hast, schreibe es in die Kommentare. Bei persönlichen Fragen freue ich mich über eine Email von Dir.
Deine Madeleine
Das liest sich sehr interessant, durchdacht und abgewogen. Gehen eure Kinder gar nicht in die Schule, oder „müssen“ sie eine Art Onlineschule machen? Wegen der generellen Schulpflicht meine ich – kann man sich da „befreien“ lassen?
Hallo, danke für dein Feedback. Unsere Kinder sind nich nicht schulpflichtig. Anton wird, bzw. würde nächstes Jahr eingeschult werden. Wir sind gerade dabei für uns herauszufinden wie es dann weitergehen soll. Wie es für uns weitergehen wird, werden wir hier auf jedenfall berichten. lg Jasmin
Hallo Sebastian, die Schulpflicht ist in Deutschland in jedem Bundesland anders geregelt. Für uns in Hessen gilt der gewöhnliche Aufenthaltsort als ausschlaggebend für die Schulpflicht. Solange wir nicht da sind, gilt sie also nicht. Solange wir es allein gut gestemmt bekommen nutzen die Kinder keine Online-Schule. Sollte es unsere Kompetenzen übersteigen, werden wir nach Lösungen suchen.